Jüdische Grabsteine werden dokumentiert
Seit 52 Jahren folgt der Forscher Michael Brocke der Spur der Steine.
Von Waltraud Bierwirth in Kultur, Nachrichten
Alte jüdische Grabsteine. Als Trophäen vielhundertfach in der Altstadt verbaut. Professor Michael Brocke, namhafter deutscher Judaist und amtierender Direktor des Steinheim-Instituts in Essen, bringt sie zum Sprechen. Gebannt hören ihm die Regensburger zu. Michael Brocke schöpft aus einem Forschungsfundus von fünf Jahrzehnten.
Aus dem Judaistik- wurde ein Dogmatik-Lehrstuhl
Als junger Forscher kam der nichtjüdische Michael Brocke 1968 an die junge Regensburger Universität. Er hatte den Auftrag angenommen, die Einrichtung eines Judaistik-Lehrstuhls vorzubereiten. Daraus wurde dann doch nichts. Aus dem Judaistik-Lehrstuhl wurde ein zweiter Dogmatik-Lehrstuhl. Und berufen wurde Joseph Ratzinger, der heutige Papst emiritus. Ratzinger zog es mit Macht aus dem unruhigen Tübingen ins beschauliche Regensburg.
Neun Jahre später, Ende der siebziger Jahre, verließ Michael Brocke die Theologisch-Katholische Fakultät in Regensburg, um an verschiedenen deutschen Universitäten als Professor für Judaistik beziehungsweise Jüdische Studien zu arbeiten. Zuletzt an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. Was in Regensburg seinen Anfang nahm, wurde ihm zum Lebenswerk: die wissenschaftliche Dokumentation und Erforschung jüdischer Friedhöfe.
Sein einstiger Schüler, Freund und Kollege Andreas Angerstorfer, führte in Regensburg und der Oberpfalz bis zu seinem Tode fort, was bis heute unvollendet ist: die Erforschung jüdischer Grabsteine.
Was diese über das mittelalterliche jüdische Leben in Regensburg vom 13. bis ins 16. Jahrhundert erzählen, berichtete Brocke in Beispielen in seinem Vortrag im Jüdischen Gemeindezentrum. Er ordnete historisch ein, stellte klar – maximal 1.000 Grabsteine gab es nach der Vertreibung von 1519 in der Innenstadt – und zog Vergleiche zu den ältesten jüdischen Gemeinden Deutschlands. Sein Befund: „Regensburg hatte eine strenge eigene Ordnung in der Grabsteinkultur. Keine Abbildungen, keine Schnörkel, es dominiert die Schrift.“ Dafür stehen die Stelen, die vom arbeitsreichen Leben des kaiserlichen „Judenknechtleins“ berichten oder in hebräischer Schrift vom frühen Tod junger Menschen im Kindes- und Jugendalter erzählen.
Sein großes Wissen um die jüdische Grabsteinkultur brachte der Wissenschaftler Michael Brocke in die Datenbank „epidat“ – der Forschungsplattform für jüdische Grabsteinepigrahik ein. Als Direktor des Steinheim-Instituts in Essen übernahm er die Federführung für die mittlerweile europaweite Forschung. 35.859 jüdische Grabmale sind in dieser Datenbank online zugänglich (davon 71.369 Bilddateien).
Eingang in diese Datenbank fanden auch Forschungsergebnisse seines Regensburger Freundes Andreas Angerstorfer, der im Juli 2012 im Alter von 63 Jahren überraschend starb. Der Wissenschaftler Angerstorfer, engagiert im Kampf gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus, widmete sein letztes Werk der Dokumentation des alten jüdischen Friedhofs an der Schillerstraße. Nur 15 von 90 erforschten Grabsteinen aus dieser Dokumentation fanden Eingang in die Datenbank „epidat“. Der Grund: Es mangelt an der Finanzierung für die Fertigstellung der Dokumentation. Es fehlen die Abbildungen, denn Angerstorfer fotografierte nicht. Der jüdische Friedhof an der Schillerstraße, den die Regensburger Nazis noch 1945 erwerben und einebnen wollten, zählt etwa 900 Gräber. Das ist der Bestand seit der Gründung von 1822. Heute wird dieser Friedhof nicht mehr belegt. Für die Forschung ist der ältere Teil, der ab 1822 entstand, von Bedeutung.
Deshalb steht am Morgen nach seinem Vortrag der Wissenschaftler Michael Brocke auf diesem Friedhof und arbeitet. Grabmal für Grabmal, Reihe für Reihe, etliche Tage von früh bis spät. Er übersetzt die Inschriften und sein langjähriger Mitarbeiter, der freiberufliche Historiker und Fotograf Dr. Bert Sommer fotografiert.
Nüchtern, wie es seine Art ist, sagt Brocke so nebenbei: „Jetzt muss das arme Nordrhein-Westfalen dieses Projekt im reichen Bayern sichern.“ Aus NRW-Landesmittel wird das Steinheim-Institut in Essen finanziert. Was Brocke zum Kommentar veranlasste, hatte er am Morgen in der Zeitung gelesen: Die Stadt Regensburg gibt für eine Woche Lichtspektakel am Dom 320.000 Euro aus.
Für sehr viel weniger Geld wollen die Grabsteinexperten in Regensburg nun sichern, was kaum noch sichtbar ist: Die hebräischen Inschriften, die vom Leben und Sterben derjenigen berichten, die hier die letzte Ruhstätte fanden. Wie: David Philippsohn Wertheimber, gestorben am 2. Mai 1837 im 31. Lebensjahr. Er war ein Mann von Edelmut, geehrt und gepriesen, von Herzen freigiebig.
Manches Grabmal trägt neben der hebräischen eine zusätzliche deutsche Inschrift. Diese wendet sich an die nichtjüdischen Besucher des Friedhofs und teilt mit, dass Philipp Wertheimber, nicht nur Großhändler sondern auch „Bürger“ der Stadt war. Er stammte aus einer der ersten jüdischen Familien Regensburgs, die nach dem Judenedikt von 1813 die Bürgerrechte verliehen bekamen.
Um diese Inschriften vor dem Vergessen zu sichern bedarf es vieler Arbeitsgänge, um die verwitterten Steine zum Sprechen zu bringen. Hand in Hand arbeitet Brocke deshalb seit vielen Jahren mit dem Fotospezialisten Bert Sommer zusammen. Neben dem historischen Hintergrundwissen bringt er die in römischen Katakomben erworbene Fototechnik mit: Streiflichtblitz, Spezialkamera und digitale Bearbeitung. Das Ergebnis dieser Arbeit wird nicht nur in die Datenbank des Steinheim-Instituts in Essen fließen, sondern soll auch zu einer Buchveröffentlichung über die jüdischen Friedhöfe in Regensburg, die mittelalterlichen Grabsteine und die vermauerten Fragmente führen.
„Ich schulde Regensburg noch ein Buch“, kündigte Brocke an, was bisher in der Weltkulturerbestadt Regensburg fehlt: Eine authentische Übersetzung der jüdischen Grabsteine, die nach dem Pogrom von 1519 in Wohnhäusern, Kirchentürmen (Neupfarrkirche) und Durchgängen verbaut wurden, als auch der Grabinschriften des Friedhofs an der Schillerstraße.