Von Robert Werner in Nachrichten
Vor zweihundert Jahren, 1822, durfte die Jüdische Gemeinde wieder einen Friedhof in Regensburg anlegen. Hundertzwanzig Jahre später wollte die nationalsozialistische Stadtverwaltung unter Hans Herrmann und Otto Schottenheim den Friedhof beseitigen und in den Stadtpark integrieren. Ein rechtswidrig-fingierter Kaufvertrag und der für die Nazis schlechte Kriegsverlauf verhinderten dies. Heute steht der Friedhof unter Denkmalschutz.
Zum 200jährigen Jubiläum des Friedhofs hat die Journalistin Waltraud Bierwirth ein spannendes Buch herausgegeben. Unter dem Motto Was Grabsteine erzählen – Lebensbilder aus zwei Jahrhunderten wird in fünfunddreißig Kurzbiografien das Leben und Sterben von Regensburger Juden und Jüdinnen skizziert. Etwa Zwei Drittel der Biografien stammen aus der Feder Bierwirths. Die Erinnerung an Philipp Reichenberger (Bauherr des Dörnberg-Palais) und an Bernhard Degginger (dem ehemaligen Besitzer und Namensgeber des Kulturzentrum “Degginger”) liegt Bierwirth besonders am Herzen. Christel Herrmann, Klaus Himmelstein und Sylvia Lischer haben die restlichen Lebensbilder beigesteuert. Fotografien der jeweiligen Grabsteine und in einigen Fällen auch der darauf angebrachten Symbolik unterfüttern die Biografien.
Die Judaistin Nathanja Hüttenmeister, seit 2003 wissenschaftliche Mitarbeiterin und Expertin für Jüdische Friedhöfe am Salomon Ludwig Steinheim-Institut (Essen), zeichnet in einem fast dreißigseitigen Beitrag die jüdische Friedhofskultur im Zeitenwandel nach. Sie erklärt darin auch die dabei verwendete Symbolik, wie etwa die segnenden Priesterhände der Kohanim. Am Beispiel des Grabmals der Regensburger Jüdin Riwka bat Awraham Herzog übersetzt und deutet Hüttenmeister die hebräischen Inschriften und die darauf verewigte Lobrede (Eulogie).
Die Inschrift auf Riwkas Grabstein ist laut Hüttenmeister außergewöhnlich lang und ausführlich, durchgehend in Reimform verfasst: „Die Eulogie rühmt ihre Güte ebenso ihre Fürsorge, ihre Tatkraft und ihre Gastfreundschaft.“
Riwka war Gattin des Regensburger Rabbiners Bezalel Broda, sie starb 1758. Da die Stadt Regensburg den damals dort wohnenden Juden und Jüdinnen keinen eigenen Friedhof gewährte, musste ihr Leichnam ins über 80 Kilometer entfernte Pappenheim transportiert werden. Auf dem Wege nach Pappenheim (heute Mittelfranken) musste für die tote Riwka an mehreren Stellen Zoll an die jeweiligen Herrschaften entrichten werden. Seit Mitte des 17.Jahrhunderts gewährten die Reichserbmarschälle von Pappenheim den Regensburger Juden gegen Geld rechtlichen Schutz und Begräbnisort.
Wie andere Jüdischen Gemeinden führte auch die Regensburger ein Memorbuch, in dem unter anderem die Sterbetage der verstorbenen Mitglieder verzeichnet wurden. Dieses wurde aber in der Pogromnacht des Novembers 1938 von den Regensburger Nazis geraubt. Es gilt seitdem als verloren. Ebenfalls in der Pogromnacht geraubt wurde das gesamte Gemeindearchiv, in dem auch Unterlagen, Rechnungen und Skizzen zum Friedhof an der Schillerstraße befinden.
Nach der Zerschlagung des NS-Regimes kam das Archiv über Umwege nach Jerusalem ins Central Archives for the History of Jewish People. Eine digitale Kopie der 43.000 Dokumente umfassenden und bis ins 17. Jahrhundert zurückreichende Sammlung befindet sich seit 2021 im hiesigen Stadtarchiv – sie können auch online eingesehen werden. Sie dienten den Autoren der 35 Lebensbilder als Quelle. Stadtarchivar Lorenz Baibl hat bei der Präsentation des Buchs Interessierte eingeladen, weitere Forschungen anzustellen. Darüber hinaus konnten die Autoren und Autorinnen für ihre Lebensbilder auf Vorarbeiten des 2012 verstorbenen Judaisten Andreas Angerstorfer zurückgreifen.
Klaus Himmelstein zeichnet in einem Buchbeitrag die historische Entwicklung und gesellschaftlichen Verhältnisse nach der Vertreibung der Regensburger Juden 1519 nach. Damals mussten rund 500 Juden und Jüdinnen jeden Alters, auf Geheiß des Stadtrats binnen weniger Tage die Stadt verlassen. Der Friedhof jener Zeit (laut christlichen Quellen soll er über 5.000 Grabsteine umfasst haben) wurde wenige Tage nach dem Abbruch des jüdischen Viertels und der Synagoge zerstört. Leichen wurden geschändet.
Die wertvollen Grabsteine wurden geraubt und als Baumaterial benutzt. Oder auch in der Stadt und der Umgebung als Trophäen sichtbar verbaut. Als Zeichen des Triumphs wurden 1519 auf dem verwüsteten Friedhofsareal drei Kreuze mit Bildern Christi errichtet. In der Folge wurde das Areal als gemeindliche Weide für Schweine genutzt und gelangte in den Besitz des nahe gelegenen Klosters St. Emmeram.
Nach der Vertreibung von 1519 duldete der Stadtrat Juden in seinem Gebiet erst wieder ab 1663, als der Immerwährende Reichstag in Regensburg abgehalten und organisiert werden musste. Wie bereits erwähnt standen diese, sogenannten Reichstagsjuden, unter dem Schutz des jeweiligen Grafen von Pappenheim, der gegen den Willen der Stadt Ende des 18. Jahrhundert eine neue Jüdische Gemeinde entstehen ließ, so Himmelstein in seinem Beitrag.
Nachdem die Auflösung des Reichs 1803 in Regensburg mit dem Reichsdeputationshauptschluss besiegelt wurde, regelte ab 1813 das Bayerische Judenedikt die Rechtsverhältnisse der Regensburger Juden. Demnach durften maximal 17 jüdische Familien in Regensburg leben. Dies entsprach rund 100 Personen, sie wurden in einem Verzeichnis, Judenmatrikel genannt, nach Familienvorständen genau aufgelistet und von daher „Matrikeljuden“ genannt. Hinzu kamen jüdische Unternehmer, die in Regensburg neben der Matrikelgesetzgebung geduldet wurden. Für diese vergrößerte jüdische Gemeinde bewilligte der Stadtrat dann den besagten Friedhof, der 1822 eröffnet wurde.
Als 1861 auch im Königreich Bayern (als letztes Staatsgebilde in Europa) die Matrikelgesetze aufgehoben wurden, gab es für Regensburg eine freie Wahl des Wohnortes und die Zahl der jüdischen Gemeindemitglieder vervielfachte sich. Begleitet wurde der Prozess der rechtlichen Gleichstellung und Emanzipation der Juden und Jüdinnen von mehrfachen Schändungen des Friedhofs. Auch nach der Erweiterung des Friedhofs kam es wiederholt zu Attacken. 1924 wurden Grabsteine mit Hakenkreuzen beschmiert, bald darauf (1927) Steine umgeworfen.
Drei Jahre nach der Machtübernahme versuchte auch die nationalsozialistische Stadtverwaltung unter Hans Herrmann und Otto Schottenheim erstmals den Friedhof zu beseitigen und in den Stadtpark zu integrieren. Dies blieb erfolglos. Auch mit Hilfe des 1943 vom damaligen Nazibürgermeister Hans Herrmann eingefädelten und fingierten Kaufvertrags zwischen der Stadt und der bereits aufgelösten „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ konnten die Nazis den Friedhof nicht in Besitz nehmen und wie geplant zerstören.
Himmelstein zeichnet diese „rechtlich unmögliche Vorgehen“ genau nach. Und korrigiert damit die in Regensburg immer noch verbreitete Legende, der zufolge der jüdische Friedhof an der Schillerstraße vor allem wegen des Widerstands von Hans Herrmann nicht zerstört worden sei. Verbreitet wurde diese schön klingende Legende unter anderem in einem Bericht der Mittelbayerischen Zeitung von 1989 und in der vom Stadtarchiv finanzierten und herausgebenden Arbeit des ehemaligen Schuldirektors Siegfried Wittmers (Regensburger Juden, 1996).
Die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Regensburgs, Ilse Danziger, schreibt im Geleitwort des Buchs, ein Jüdischer Friedhof soll gemäß den Religionsgesetzen ein Ort für die Ewigkeit sein. Ein „Guter Ort“, ein „Haus des Lebens“. Für Danziger sind „die Toten nicht wirklich fort, sie sind präsent in Erinnerung, in Grabinschriften“. Der in Regensburg vor 200 Jahren angelegte umfasst 860 Grabsteine von Jüdinnen und Juden, aus bis zu sechs Generationen. Heute steht er unter Denkmalschutz, Bestattungen finden darauf keine mehr statt, es wurde am Dreifaltigkeitsberg einer neuer eröffnet.
Wie schon mit ihren thematisch verwandten Büchern (zur Beraubung der Regensburger Juden: Schandzeit in Regensburg 1933 – 1945 (2017) und zum November-Pogrom 1938 (2013) ist das von Bierwirth herausgegebene Buch ein wichtiger Beitrag zur (jüdischen) Geschichte Regensburgs.
Das Buch ist im Pustet-Verlag erschienen und kostet 24,95 Euro.
Waltraud Bierwirth: Die Steine zum Sprechen bringen. 200 Jahre Jüdischer Friedhof in Regensburg (2022)